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Tipp Nr. 31: Feststellung der Eigenschaft als Schwerbehinderter – Fragen kostet doch nichts

Beabsichtigt ein Arbeitgeber einem schwerbehinderten Menschen zu kündigen, muss er zuvor nach § 85 SGB IX die Zustimmung des Integrationsamtes einholen, sofern dies nach den § 90 SGB IX nicht ausnahmsweise entbehrlich ist. Die Regelungen gelten nach § 68 Abs. 1 SGB IX für Schwerbehinderte und diesen gleichgestellte behinderte Menschen. Schwerbehindert sind Menschen, bei denen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt (§ 2 Abs. 2 SGB IX). Ihnen sollen solche behinderten Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50 aber mindestens 30 gleichgestellt werden, bei denen die übrigen Voraussetzungen nach § 2 Abs. 2 SGB IX vorliegen und die infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder nicht behalten können, § 2 Abs. 3 SGB IX. Die Gleichstellung erfolgt aufgrund einer Feststellung nach § 69 SGB IX auf Antrag des behinderten Menschen durch die Bundesagentur für Arbeit. Dabei wirkt die Entscheidung konstitutiv(BAG v. 27.1.2011 – 8 AZR 580/09). Holt ein Arbeitgeber die Zustimmung des Integrationsamtes nicht ein, obwohl dies erforderlich ist, ist die Kündigung nach § 134 BGB unwirksam.

Es ist daher im Interesse des Arbeitgebers, vor einer Kündigung zu erfahren, ob eine derartige Schwerbehinderung oder Gelichstellung besteht, sofern der Arbeitnehmer ihm diese noch nicht mitgeteilt hat.

 

Die falsche Strategie:

Nicht empfehlenswert ist, einen Bewerber bereits im Bewerbungsgespräch zu fragen, ob eine derartige Schwerbehinderung oder Gleichstellung bei ihm gegeben ist. Wird der Bewerber dann abgelehnt, kann sich der erfolglose Bewerber auf ein Indiz wegen rechtswidriger Benachteiligung nach dem AGG berufen, da die „Behinderung“ ein Diskriminierungsmerkmal im Sinne des § 1 AGG iVm § 7 AGG ist. Für den Arbeitgeber besteht die Gefahr, dass ein solcher Bewerber zumindest einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG geltend macht.

Ausreichend ist, dass ein in § 1 AGG genannter Grund Bestandteil eines Motivbündels ist, das die Entscheidung beeinflusst hat. Nach der gesetzlichen Beweislastregelung gem. § 22 AGG genügt es, dass der Anspruchsteller Indizien vorträgt und im Streitfalle beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen. An diese Vermutungsvoraussetzungen ist nach Ansicht des BAG kein zu strenger Maßstab anzulegen. Es ist nicht erforderlich, dass die Tatsachen einen zwingenden Indizienschluss für eine Verknüpfung der Benachteiligung mit einem Benachteiligungsmerkmal zulassen. Vielmehr reicht es aus, wenn nach allgemeiner Lebenserfahrung hierfür eine überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht. Sodann trägt der Arbeitgeber die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat (17.12.2009 – 8 AZR 670/08). Diesen Beweis kann ein Arbeitgeber regelmäßig nur schwer führen

 

Nicht ratsam ist ferner, vorsorglich einen Antrag auf Zustimmung zur beabsichtigten Kündigung beim Integrationsamt zu stellen. Zwar kann ein Arbeitgeber dann ohne die Befürchtung eines Sonderkündigungsschutzes nach dem SGB IX kündigen, wenn er vom Integrationsamt mitgeteilt bekommt, das keine Schwerbehinderung oder Gleichstellung besteht. Diese Vorgehensweise ist aber zeitraubend; der Arbeitgeber muss mit der Erklärung der Kündigung warten, bis er die Stellungnahme des Integrationsamts erhält.

 

Die richtige Strategie

Neuerdings ist zu empfehlen, sich bei dem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis gekündigt werden soll, nach einer eventuellen Schwerbehinderung – aus Beweisgründen schriftlich – zu erkundigen.

Im bestehenden Arbeitsverhältnis ist jedenfalls nach sechs Monaten, also nach dem Erwerb des Sonderkündigungsschutzes für behinderte Menschen, die Frage des Arbeitgebers nach der Schwerbehinderung nach einer neuen Entscheidung des BAG (16.2.2012 – 6 AZR 553/10, Pressemitteilung BAG 12/2012) zulässig.

Das gilt insbesondere zur Vorbereitung von beabsichtigten Kündigungen. Die Frage nach der Schwerbehinderung im Vorfeld einer vom Arbeitgeber beabsichtigten Kündigung steht im Zusammenhang mit der Pflichtenbindung des Arbeitgebers.  § 1 Abs. 3 KSchG verlangt, dass die  Schwerbehinderung eines Arbeitnehmers bei der Sozialauswahl berücksichtigt wird. Außerdem bedarf bei einem schwerbehinderten Menschen – und bei einem – aufgrund des Sonderkündigungsschutzes eine Kündigung nach § 85 SGB IX grundsätzlich der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Die Frage nach der Schwerbehinderung soll es dem Arbeitgeber ermöglichen, sich rechtstreu zu verhalten. Sie diskriminiert behinderte Arbeitnehmer nicht gegenüber solchen ohne Behinderung. Auch datenschutzrechtliche Belange stehen der Zulässigkeit der Frage nicht entgegen.

Erklärt der Arbeitnehmer auf eine ihm unter dem Gesichtspunkt widersprüchlichen Verhaltens verwehrt, sich im Kündigungsschutzprozess auf seine Schwerbehinderteneigenschaft zu berufen.

 

Entsprechendes wird man auch für eine Frage nach einer Gleichstellung annehmen können. Soweit aus der Pressemitteilung ersichtlich, hat das BAG nicht entschieden, ob ein entsprechendes Fragerecht auch dann besteht, wenn der Sonderkündigungsschutz nach § 85 SGB IX ausnahmsweise nicht besteht, weil das Arbeitsverhältnis zum Beispiel noch keine sechs  Monate andauert. Dies wird man bejahen müssen. Ein Interesse an einer solchen Frage könnte ein Arbeitgeber unabhängig von einer Kündigung auch dann haben, wenn er bisher die Beschäftigungsquote in Höhe von 5 % nach § 71 Abs. 1 SGB IX noch nicht erfüllt und deshalb nach § 77 SGB IX eine Ausgleichsabgabe zahlen muss. Auch in diesem Fall wird man eine entsprechende Frage für zulässig halten können.